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Sonntag, 12. Februar 2012

Schach und Paranoia

Schach und Paranoia
Verfolgungswahn und Verschwörungstheorien bei Spielergenies


(Auszüge eines Vortrags von Mathias Bröckers bei der Veranstaltungsreihe “ Hinter den Spiegeln - Zur Kultur des Spiels und der Schönheit des tiefen Denkens”, Kunsthalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 30.11.2006 )

Andy Grove, als Mitbegründer von Intel einer der erfolgreichsten Unternehmer unserer Zeit, benannte eine seiner Buch-Publikationen mit dem Titel “Only the paranoid survive” - Nur die Paranoiden überleben – und von Henry Kissinger, einem der einflußreichsten Politiker und Politikberater unserer Tage, ist eine andere Weisheit überliefert: “Wer in Washington nicht paranoid ist, spinnt.” Zu den Eigenschaften oder dem Handwerkszeug der Erfolgreichen scheint also die Paranoia durchaus zu zählen, doch gilt sie gleichzeitig auch als eine Geisteskrankheit. “Para” heißt im Griechischen “neben” – und “noia” ist der “Verstand”, der Paranoiker ist also dem Wortlaut nach einer, der sich außerhalb seines normalen Verstands bewegt. Landläufig und allgemein wird Paranoia als Verfolgungswahn bezeichnet:

“Der Patient hat das Gefühl, verfolgt zu werden. Ein paranoider Mensch glaubt oft, dass andere beabsichtigen, ihn zu schädigen, zu betrügen oder auch zu töten. Oft kann er dafür auch "Beweise" präsentieren, die für ihn völlig überzeugend scheinen, für Außenstehende dagegen überhaupt nichts besagen. Diese Überzeugungen sind wahnhaft. Der Patient ist durch nichts von ihnen abzubringen, rationale Argumente und Überzeugungsversuche von Außenstehenden haben keinen Erfolg.”

Nach dieser Definition (aus der Wikipedia Enzyklopädie) scheint es noch schwerer zu verstehen, warum erfolgreiche Manager oder Politiker die Paranoia zu ihren Patentrezepten zählen. Offensichtlich ist es daher notwendig, zwischen einer gesunden und einer krankhaften Paranoia zu unterscheiden – ähnlich wie bei einer Droge, scheint es auch bei der Paranoia auf die Dosis anzukommen, zuviel ist ungesund und macht krank.

Aber ohne Paranoia scheint es auch nicht zu gehen, weder in der Wirtschaft, noch in der Politik, noch – wie wir sehen werden – im Schach. Zuvor wollen wir aber noch ein wenig genauer betrachten, was Paranoia überhaupt ist und wo die Grenze zwischen gesunder Skepsis und krankhafter Einbildung verläuft. Mit dem Stichwort Skepsis haben wir schon einen wesentlich Aspekt des paranoischen Geistes benannt: “Nichts ist so, wie es scheint!” .



Wenn Agent Fox Mulder die Augen aufreißt und seiner Partnerin, Agentin Scully, einen verzweifelten Blick zuwirft - worauf diese vielsagend die schöne Stirn in Falten zieht -, dann wissen die Zuschauer von "Akte X": SIE haben wieder zugeschlagen oder stecken zumindest dahinter.

"Ein Paranoiker", definierte der Schriftsteller William S. Burroughs, "kennt immer alle Fakten" - der unermüdlich Fakten aufdeckende Agent Mulder wäre insofern der perfekte Paranoiker - und tatsächlich ohne die skeptische, erdgebundene Frau Doktor Scully an seiner Seite spätestens in Folge drei im Irrenhaus gelandet. So aber wurde er zu einem der beliebtesten Fernsehhelden und die "X-Files" zu einer der weltweit erfolgreichsten TV-Serien. Ein postmoderner Don Quichotte, der nicht nur den alten aussichtslosen Kampf kämpft - in diesem Fall gegen die Windmühlenflügel mysteriöser Verbrechen und Vertuschungen - sondern der auch weiß, dass die mit der Aufdeckung dieser Fälle beauftragten Agentur, und damit er selbst, ebenfalls ein Teil der Vertuschung sind.

"Wem es gelingt, dir falsche Fragen einzureden, der braucht vor der Antwort nicht zu bangen", hieß es in Thomas Pynchons großem Verschwörungs-Roman "Die Enden der Parabel" – für den Geheimagenten wie für den Schachspieler ist diese fatale Erkenntnisfalle täglich Brot. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass mit Mulder und Scully zwei Fernsehfiguren zu Superhelden wurden, die untentrinnbar in ein Spiegelgefecht von Wahrheit und Lüge, Manipulation und Realität verwickelt sind. Und mit diesem Dilemma sind wir mitten in einer Schachpartie, in der ja ebenfalls nichts ist wie es scheint: hinter jedem Zug kann eine Falle verborgen sein, hinter jeder Stellung ein geheimer, unsichtbarer Plan, hinter jeder Figur eine Verschwörung.

Das erste Kennzeichen einer Verschwörung ist die fehlende Offensichtlichkeit: auf den ersten Blick sieht alles harmlos aus. Aber diese scheinbare Harmlosigkeit kann täuschen – und im Schach lauert das Übel nicht gleich hinter der nächsten Ecke, sondern hinter der über-über-über-nächsten, oder noch um viele Ecken weiter, weshalb besonderer Scharfsinn erforderlich ist, die in der Zukunft liegenden Untiefen, die drohenden Übel und tödlichen Fallen vorauszusehen – und die Täuschungen zu durchschauen. Dass nur die Paranoiden überleben – und dass, wer nicht paranoid ist , spinnt – diese beiden eingangs genannten Einsichten erfolgreicher Industrie- und Politikberater leuchten im Blick auf das Schachspiel unmittelbar ein. Und so scheint es sicher auch kein Zufall, dass die zwei vielleicht größten Wunderkinder der Schachgeschichte, Paul Morphy und Bobby Fischer, nach ihren genialen Leistungen auf dem Brett im wirklichen Leben einer schweren Paranoia anheimfielen.

Paul Morphy lernte das Spiel als 10-jähriger von seinem Vater, zwei Jahre, 1839, später schlug er bereits den damaligen Schachkönig von New Orleans und galt kaum über 20 als bester Spieler der Welt. Den Ruf eines Genies brachten ihm vor allem seine spektakulären Simultan-Blind-Partien, bei denen er auch stärkste Gegner reihenweise besiegte: „MORPHY ist großartiger als CAESAR, denn er kam und siegte ohne zu sehen“, - so wurde der 21-jährige gefeiert, nachdem er als erster Amerikaner in die bis dahin europäische Domäne des Schachs eingedrungen war und auf seinen Transatlantikreisen nahezu alle europäischen Spitzenspieler geschlagen hatte – außer Staunton, dem führenden englischen Spieler, der ihm drei Monate lang einen Zweikampf verweigerte.

Ernest Jones, dem Schüler und Übersetzer Sigmund Freuds, verdanken wir eine ausführliche Studie über Paul Morphy; er sieht in dem immensen Druck, den Schmeichelein solchen Ausmaßes auf den jungen Mann ausübten, schon den Beginn der Tragödie die folgte: Morphy verlor jedes Interesse am Spiel. Die folgenden 20 Jahre seines Lebens rührte er kein Brett mehr an, mied die Orte früherer Triumphe und entwickelte zunehmende die Symptome einer schweren Paranoia. Jones schreibt:



“Er fühlte sich von Leuten verfolgt, die danach trachteten, sein Leben unerträglich zu machen. Sein Wahn konzentrierte sich auf den Gatten seiner älteren Schwester, der Vermögensverwalter des väterlichen Nachlasses war und von dem er glaubte, er wolle ihn seines Erbteils berauben. Er forderte ihn zum Duell, und strengte darauf einen Prozeß gegen ihn an, wobei er Jahre damit verbrachte, sich auf diesen Fall vorzubereiten; vor Gericht wurde schnell ersichtlich, daß die Anklagen haltlos waren. Er fürchtete außerdem, daß Menschen, besonders sein Schwager, ihn vergiften wollten und weigerte sich eine zeitlang, Essen aus den Händen anderer als seiner Mutter oder seiner (jüngeren, unverheirateten) Schwester anzunehmen. (...) Er hatte die Lebensweise angenommen, täglich, pünktlich zur Mittagsstunde und aufs feinste herausgeputzt, einen Spaziergang zu unternehmen. Zurückgekehrt ruhte er bis zum Abend, an dem er die Oper aufsuchte, dabei keine einzige Aufführung versäumend. Er wollte niemanden außer seiner Mutter sehen und es versetzte ihn in Ärger, falls seine Mutter es unternahm, selbst nahe Freunde ins Haus einzuladen. Zwei Jahre vor seinem Tod wurde er um Mitarbeit an einem geplanten biographischen Werk, das Berühmtheiten Louisianas, auch sein Leben, enthalten sollte, gebeten. Er antwortete mit einem entrüsteten Schreiben des Inhalts, daß sein Vater, Richter ALONZO MORPHY, bei seinem Tode die Summe von 146.162 Dollar und 54 Cent hinterließ während er selbst keinem Beruf nachgegangen sei und nichts mit Biographien zu tun hätte. Beständig sprach er vom Vermögen des Vaters und die bloße Erwähnung des Schachs reichte aus, ihn zu irritieren.”

(Ernest JONES: Das Problem des PAUL MORPHY -Ein Beitrag zur Psychologie des Schachs, International Journal of Psycho-Analysis, Januar 1931 , http://www.chessbase.de/nachrichten.asp?newsid=3852 - _ftn1 )

Auch wenn man die psychoanalytische Theorie von Oedipus und Vatermord nicht teilt, - Morphys Fixierung auf den König, den Vater, und die Feinde, die ihn seines Vermögens berauben wollen, weißt durchaus Parallelen zum Schach auf. Fast scheint es, als hätte sein Genius, das sich von der Schachwelt abwandte nun eben in der realen Welt jene Verschwörung vor Augen, die nichts anderes im Sinn hat, als den König seines (Bewegungs-)Vermögens zu berauben.

Paul Morphy war nicht nur einfach der beste Schachspieler seiner Zeit, der Geniestatus wurde ihm vor allem wegen der Art und Weise zuteil, in der er seine Partien führte. Er entwickelte die vielleicht aggressivste Eröffnung überhaupt, das nach ihm benannte Morphy-Gambit, bei der Weiß bereits im fünften Zug einen Springer und kurz darauf noch einen Läufer opfert. Doch glücklich werden konnte mit diesem schnellen Materialgewinn nur, wer das folgende Abspiel genaustens beherrschte – und zu Morphys Zeiten waren das nur wenige. Alle anderen vergifteten sich an dem fetten Brocken und erlagen dem folgenden Sturm schnell. Nur wer die materiellen Angebote, die der Opferstratege Morphy machte, genauestens gegen die immateriellen und unsichtbaren Stellungsnachteile abwog, nur wer sehr paranoisch vorging, wer das Nicht-Offensichtliche, das Verborgene, die unsichtbare Falle hinter jeder Ecke wahrzunehmen versuchte, konnte gegen einen Spieler wie Morphy bestehen.

Wir haben oben bereits drei Kernsätze des Verschwörungsdenkens zitiert . Der erste - “Nichts ist wie es scheint” – trifft auf das Schachspiel unmittelbar zu : wer nur das Offensichtliche wahrnimmt und die verborgenen Konsequenzen übersieht, ist hoffnungslos verloren.

“Wem es gelingt, dir falsche Fragen einzureden, braucht vor der Antwort nicht zu bangen.” – den Gegner auf falsche Spuren zu locken, ihm Fallen zu stellen und vergiftete Köder anzubieten; Strategien wie diese sind für das Schach als Kunst der Täuschung essentiell.

Und auch der dritte eingangs zitierte Kernsatz: “Der Paranoiker kennt immer alle Fakten” leuchtet im Zusammenhang mit dem Schachspiel unmittelbar ein. Der Grund, warum viele Experten das derzeitige Match zwischen Mensch und Maschine als das vielleicht letzte ansehen, in dem der Mensch noch ein Chance haben könnte, liegt darin, dass Computer in Sachen Faktenkenntnis mittelerweile ein derartiges Arsenal aufzuweisen haben, dass selbst hochgradig kenntnisreiche und vorsichtige Spieler nicht mehr mithalten können.

Tiefe Skepsis und ständiges Mißtrauen gegenüber dem Offensichtlichen, große Vorsicht vor falschen Spuren und verborgenen Fallen, sowie die Kenntniss möglichst aller Fakten – diese Grundzüge des Schachs entsprechend exakt denen der Paranoia, des Verschwörungsdenkens. Deshalb kann es eigentlich nicht wundern, dass besonders geniale Schachspieler auch einen besonderen Hang zur Paranoia haben – auf dem Brett überleben nur die Paranoiden, wer im Schach nicht paranoid ist, spinnt. Erst wenn diese von Spitzenspielern in Perfektion praktizierte Paranoia vom Brett ins wirkliche Leben überschwappt, wenn sie nicht mehr nur der Stellung der Holzfiguren mit permanentem Mißtrauen begegnen, sondern auch ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt, wird es problematisch.

Liegen nicht, fragte der Philosoph George Steiner, “vielfältige Impulse zur Paranoia und Wirklichkeitsentfremdung im Schach höchstselbst, in der Gewalt und autistischen Leidenschaft des Spiels?”

Das scheint in der Tat so zu sein – und dass die Buddhisten einst das Spiel gleichsam als Bollwerk erfanden, weil sie jedweden Krieg und Mord, gleich aus welchem Grund ablehnten, und sich so einen Ersatz schufen, auch diese Legende leuchtet unmittelbar ein. Schach ist, auf höchst sublime Art, der permanente Ausnahmezustand, die akute Bedrohung die gewaltsame, extreme Maßnahmen erfordert, Leidenschaft, Mut und einen stets alle Fakten wahrnehmenden und analysierenden Verstand. Und es eröffnet schon nach wenigen Zügen eine schwindelerregende Vielfalt von Möglichkeiten, eine Komplexität, die es mit der der wirklichen Welt allemal aufnehmen kann. Kein Wunder deshalb, dass wissenschaftliche Experimente unlängst herausgefunden haben, das Schachspieler am ehesten mit Extremsportlern verglichen werden können. Bei einem besonders engen Match schüttet der Körper eines äußerlich ruhigen Grüblers so viel Testosteron aus wie ein Extremkletterer oder Fallschirmspringer. Schach sei weniger ein Spiel als vielmehr "Krieg auf 64 Feldern mit Figuren, die kleinen Kampfeinheiten entsprechen", heißt es dazu im “Journal of Personality and Individual Differences”. Ähnlich wie Extremsportler würden Schachspieler davon gereizt, am Rand des Abgrunds zu wandeln, und im Erfolgsfalle ein starkes Gefühl des Triumphs und der Dominanz zu verspüren. Schachspieler, zumal die der Spitzenklasse, sind also alles andere als bläßliche Weicheier, sondern eher extreme Abenteurer. Im Vergleich zu anderen Sportlern, so stellte die Studie fest, punkten "regelmäßige Turnierspieler (..) in den Bereichen unkonventionelles Denken und Paranoia am höchsten - beides gilt auch für Personen, die permanent den Nervenkitzel suchen."

Um in den Abgründen und Verwicklungen des Spiels zu bestehen, um gegen die Uhr – gegen aufziehende Unwetter – einen schmalen Grat zu passieren, auf dem jeder Fehltritt tödlich sein kann, zumal in einer Höhe von über 8000 Metern oder 2500 ELO... auch wenn sie zwei Stunden auf einem bequemen Stuhl sitzen benötigen Leistungs-Schachspieler die Nerverstärke und Fitness eines Extrembergsteigers. Und je weiter die Schlacht voranschreitet, je mehr sich die Lage zuspitzt, um so wichtiger werden Skepsis und Vorsicht - sie sind auf dem Kriegspfad und Paranoia ist ihre erste Pflicht, jede sich darbietende Beute könnte vergiftet sein.

(...)

Da diese Komplexitätsreduktion der entscheidende Effekt des Verschwörungsdenkens ist wundert es noch viel weniger, dass ausgerechnet große Schachspieler ihm anheimfallen, sind sie doch die Komplexitätsreduzierungs-Meister schlechthin – wo Deep Fritz 10 Milliarden Stellungen nachrechnen muß, berechnet Wladimir Kramnik gerade mal 30 oder 40, und spielt – fast –genauso gut. Wenn es gelingen würde, diese Reduktionsleistung des menschlichen Gehirns nur ansatzweise in die Rechenoperationen eines Computers zu implementieren – die Rechner also mit diesen Abstraktions-und Reduktionsleistungen zu Verschwörungsthereotikern zu machen, dann wären Wettkämpfe wie dieser für Menschen für allemal aussichtslos. Doch wie programmiert man paranoides, verschwörungstheoretisches Verhalten und wie steuert man es dann, dass nur die genau richtige Dosis zum Einsatz kommt ? Vielleicht bleibt das der nächsten Generation von Quantencomputern vorbehalten, die mit Unschärfen wie Ahnungen, Intutitionen, Gefühlen besser umgehen können als die jetzigen Rechenmaschinen. Allerdings sollten sie nicht so sensibel sein, dass sie dann von übersinnlichen Kräften beeinflußbar werden. So wie bei der Weltmeisterschaft 1978, bei der die Kontrahenten Kortschnoi und Karpov sich jeweils mit Medien und Parapsychologen bestückten, um vermeintliche hypnotische Beinflussungen im Publikum mit dem entsprechenden Gegenzauber zu bekämpfen. Mittlerweile haben sich die Zeiten geändert, statt der mentalen Tricks von in den 70ern angesagten Yogis und Schamanen werden mittlerweile eher die Segnungen von Mobiltelefonen gefürchtet, wie der Toilettenkrieg bei der unlängst absolvierten Weltmeisterschaft gezeigt hat. Da der berufsbedingte Hang zur Paranoia die Schachcracks auch für solche Spielchen aus der Abteilung psychologische Kriegsführung anfällig macht, werden wir sie auch bei künftigen Titelkämpfen noch häufig erleben. Denn Schachgenies sind zwar Mathadoren der angewandten Mathemathik, sie sind Extremsportler und Krieger, aber sie sind auch oft Mimosen.

„Ein Mimofant“ – auf diese Kurzformel aus Mimose und Elefant brachte der Schriftsteller Arthur Koestler die Persönlichkeit, die er 1972 bei einem in seinen Augen „bizarren Stierkampf“ erlebte: Bobby Fischer. In keinem anderen Spieler offenbart sich die Affinität von Schach und Paranoia in einem solchen Extrem und in solcher Tragik. Bobby Fischer war das jüngste und hochfliegendste Schachgenie aller Zeiten – und er ist einer der durchgeknalltesten Verschwörungsfanatiker unserer Tage. Ich muß vorausschicken, dass ich über Bobby Fischer nicht wirklich unbefangen urteilen kann, er war ein Held meiner Jugend und die Tatsache, dass ein 13-jähriger Erwachsene schlagen und Großmeister werden kann, machte mich so neugierig, dass ich dieses Spiel richtig lernen wollte und Mitte der 60er Jahre in die Jugendgruppe eines Schachclubs eintrat. Bis mit 17 oder 18 andere Dinge, vor allem Mädchen, wichtiger wurden, blieb ich dabei – und auch wenn es nie zu mehr reichte als zum 3. Platz einer Jugend-Kreismeisterschaft im Blitz , dass Bobby Fischer ein absolut genialer Spieler konnte ich verstehen und entsprechend bewundern. Und wie das so ist mit den Idolen der Jugend, man verzeiht ihnen vieles, wenn nicht alles – und selbst wenn sie sich völlig unmöglich machen, ist ihr Bonus an Hochachtung und Bewunderung kaum aufzuzehren. Wenn es stimmt, dass den tragischen Helden, den gefallenen Engeln letztlich mehr Zuneigung zuteil wird als den im Olymp verbliebenen Göttern, dann ist er ein klassischer Fall. Kein lebender Schachspieler wird mehr geliebt als Bobby Fischer – obwohl (oder weil? ) er seit über 30 Jahren ein Dasein als Eremit und Exzentriker führt und offiziell nicht mehr spielt; und obwohl er sich mit seinen Äußerungen zu Politik und Weltgeschichte völlig disqualifiziert hat. Als Bewunderer von Hitler, Leugner des Holocaust und als Paranoiker, der sich von einer jüdisch-bolschewistisch-kommunistischen Weltverschwörung, die auch Washington und die Wallstreet unterwandert hat, persönlich verfolgt fühlt.

Man tritt ihm nicht zu nahe, diese Einschätzung als gaga zu bezeichnen, aber wie jeder Paranoiker hat Fischer natürlich Fakten über Fakten parat, die er in gelegentlichen Radio-Interiews und im Internet präsentiert. Die beiden jüngsten Fälle, in denen er diese Weltverschwörung am Werke sieht, betreffen einen Einbruch in einem Lagerhaus in Kalifornien, wo er Mobiliar und persönliche Gegenstände eingelagert hatte, die angeblich „Millionen“ wert und gestohlen worden seien; der zweite Fall betrifft die Schweizer UBS-Bank, die in diesem Sommer Fischers dortiges Konto und Depot einfach schloß, die deponierten Münzen zum Tagespreis verkaufte und das Geld seiner Bank im isländischen Reikjavik überwies, wo er seit zwei Jahren lebt. Hinter beidem steckten, nach Fischers Aussage, die „Juden“, deren langer Arm über die Wall Street bis in die neutrale Schweiz reichte. Die naheliegende Tatsache, dass die Kontoschließung nicht mit einer „Weltverschwörung“, sondern damit zu tun hat, dass Fischer sich in den USA gerichtlich verantworten muß und dass die internationalen Konten aller flüchtigen, polizeilich gesuchten Personen eingefroren werden – auf diese simple Erklärung konnte Fischer nicht kommen. Denn dass das Steuervergehen und der Embargoverstoß, den er 1992 in Belgrad begangenen haben soll, als er beim Re-Match gegen Boris Spasski 2 Mio. Dollar kassierte, kriminell gewesen sein soll, will ihm einfach nicht in den Kopf. Ich muß gestehen, dass es mir so recht auch nicht einleuchtet – vor allem auf dem Hintergrund, dass sich die USA, als sie in den 90er Jahren das sozialistische Serbien isolieren wollten, sich Hilfskräften bedienten, die mindestens so kriminell waren wie der Steuerflüchtling Bobby Fischer, nämlich der islamistischen Brigaden eines gewissen Osama Bin Laden. Das „Fuck You, USA“, das Fischer nach den Anschlägen des 11. September 2001 neben anderen schadenfrohen Invektiven einem Radiosender in Manila (und der Welt) zu Protokoll gab, bleibt unverantwortlich – doch wenn wir Bobby Fischers Lebensgeschichte genauer anschauen, können wir ihn vielleicht ein bißchen besser verstehen.

Seine Mutter, Regina Wender, stammte aus einer jüdisch-polnischen Familie in der Schweiz und wuchs in St.Louis auf. Sie begann in den 30er Jahren ein Medizinstudium in Moskau, wo sie den aus Berlin stammenden Biochemiker Hans-Gerhardt Fischer kennenlernte und heiratete. Als 1938 ihre Tochter Joan geboren wurde, war der Vater im Spanienkrieg, wo er als Mitglied der internationalen Brigaden gegen den faschistischen Putsch Francos kämpfte. 1939 flieht die Familie in die USA, 1943 kommt ihr Sohn Robert James , Bobby, auf die Welt; zwei Jahre später lassen sich die Eltern scheiden – Regina Fischer schlägt sich als Krankenschwester und Lehrerin durch und studiert nebenbei weiter – meistens muß die Schwester Joan den kleinen Bobby hüten und bringt ihm im Alter von sechs Jahren das Schachspiel bei. Bald schon interessiert den Jungen nichts mehr anderes – die Mutter beklagt diese Manie einerseits, was zu wachsenden Spannung führt, unterstützt aber das Talent des Jungen auch nach Kräften. Dies alles unter den wachen Augen des FBI, das Regina Fischer von 1946 bis 1973 observierte, da man sie wegen ihrer Zeit in Moskau und wegen ihrer pazifistschen Aktivitäten für eine sowjetische Spionin hielt. Dafür fand sich nie ein Beweis. In den Spitzelberichten über Regina Fischer – einer 900-seitigen FBI-Akte, die erst vor wenigen Jahren freigegeben wurde – wird sie als „resolut“ und „paranoid“ beschrieben, sie soll mit sämtlichen nachbarn im Haus im Streit gelegen haben, das städtische psychiatrische Institut attestierte ihr eine angegriffene Persönlichkeit, „krankhaft streitsüchtig, aber nicht psychotisch". Wenn man die polternden Auftritte ihres genialischen Sohnes betrachtet, der wie ein halbstarker Marlon Brando gerade die distinguierte Schachwelt aufmischte, Veranstalter mit Gagenforderungen eines Rockstar pikierte und sich über kurz oder lang mit jedem Freund oder Berater überwarf, wird deutlich, dass Mutter und Sohn einfach zu ähnlich waren, um es lange miteinander auszuhalten. Zum defintiven Bruch soll es gekommen sein, als Regina 1961 an einem achtmonatigen Friedensmarsch nach Moskau teilnahm und ihrem Sohn dann das bis dahin gemeinsame Appartment überließ und mit einer Freundin zusammenzog, ein Jahr später übersiedelte sie in die DDR, studierte dort bis 1968 Medizin und ließ sich 1973 in Kalifornien nieder. Zur Weltmeisterschaft, die ihr Sohn 1972 in Reikjavik gewann, soll sie nicht gratuliert haben. Erst in den 90ern fand eine Versöhnung statt, nach der die beiden wieder regelmäßig telefonierten – an der Beerdigung seiner Mutter 1997 konnte Fischer allerdings nicht teilnehmen, ohne eine sofortige Verhaftung zu riskieren.

Dass aus dem Sohn eines anti-faschistischen Frontkämpfers und einer links-pazifistischen Aktivistin später einmal ein Hitler-Bewunderer und wüster Antisemit werden sollte, war sicher kein Erziehungsziel seiner Eltern – doch dass sich ein alleingelassenes Kind den Antipoden der elterlichen Ideale zuwendet, ist andererseits auch nicht sehr überraschend. Ebensowenig wie die Tatsache, dass aus einem solchen Kind später ein Soziopath wird, der mit anderen Menschen und im Leben einfach nicht zurecht kommt. Man muß kein Psychologe sein um zu sehen, dass dem Sechsjährigen König und Dame zum Ersatz für den nie anwesenden Vater und die ständig abwesende und beschäftigte Mutter wurden – und dass die Meisterschaft, zu der er es in dieser virtuellen Welt brachte mit großen Defiziten in der wirklichen Welt einherging, die eben nicht simpel in Schwarz/Weiß gestrickt ist, sondern aus vielen, vielen Zwischentönen besteht. Ebenen, die der hochsensible und hochintelligente „Mimofant“ Bobby Fischer nie richtig wahrnehmen konnte, weil er auch dort nur im simplen Schwarz/Weiß-Schema sieht. Am Tag nachdem er 1972 Weltmeister geworden war und gleichsam den Kalten Krieg im Alleingang gewonnen hatte, schaute er, wie ein Beteiligter berichtet, traurig aus dem Fenster und sagte nach einer Weile: „Das einzige was ich kann ist Schachspielen“ – um dann schnell wieder das Strahlemann-Grinsen aufzusetzen: „…aber das kann ich ziemlich gut.“

Dass er nach diesem Jahrhundertmatch mit Boris Spasski nie mehr antrat, um seinen Titel zu verteidigen, zeigt indessen an, dass er seinen Fähigkeiten nicht mehr wirklich traute: „Dass er es haßte, zu verlieren und den Mythos damit zu zerstören war ein wichtiger Grund, warum er nicht mehr spielte“, vermerkt einer seiner Biographen. Wenn für Fischer Schach das Leben war, dann war dieses Match für ihn ein Kampf auf Leben und Tod – und tatsächlich sahen die Beobachter während der entscheidenden Spiele dieser Meisterschaft den ansonsten stets lockeren und athletischen Fischer in einer ganz ungewohnten Position, nämlich starr und leichenblaß. Daß einer, der dem Tod gerade noch von der Schrippe gesprungen ist, eine weitere Schlacht aufs dringeste zu vermeiden sucht, können wir verstehen.

„Als es nichts mehr zu beweisen hab, überlagerte die Angst vor der Niederlage den Wunsch zu spielen,“ schreiben die Autoren David Edmonds und John Eidinow in ihrem Buch „Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann“ - und resümieren: „Fischers Leben belegt die Behauptung von Scott Fitzgerald, dass es in einem amerikanischen Leben keinen zweiten Akt gibt. Mit dem Erreichen seines einzigen Ziels zerstörte er seinen Daseinszweck. Ohne dieses Ziel scheint er seinen ohnehin schon unsicheren Sinn für die Realität verloren zu haben.“

Und – können wir hinzufügen - er scheint diese Realität nur noch mit dem Instrumentarium begreifen zu können, das er seit seinem sechsten Lebensjahr im Schach gelernt und verfeinert hat: mit Mißtrauen, Skepsis und Paranoia. Dass er seine Verschwörungstheorie, nach der die Kommunisten – und hinter ihnen steckend, die Juden – für alles Elend der Welt – und sein eigenes – verantwortlich sind, dass er diese Theorie mittlerweile um einen weiteren Bösewicht, nämlich Amerika, erweitert hat, scheint da nur konsequent: alle, die er liebte und die ihm nicht genug Liebe zurückgaben – seine jüdisch-kommunistischen Eltern und das Land, für das er als One-Man-Army in den Krieg gezogen war – landen konsequent auf der Fischer-Achse des Bösen.

Als ich einem Kollegen vor zwei Wochen erzählte, dass ich einen Vortrag über Schach und Paranoia und ihre tragische Hybrid-Inkarnation, Bobby Fischer, vorbereite, erzählte er mir, dass er gerade ein paar Tage in Reykjavik gewesen sei. Als er den größten Buchladen der kleinen isländischen Hauptstadt betrat, hätte er sich gewundert, warum in einem Durchgang im Eingangsbereich ein Tisch mit einem Schachbrett aufgestellt gewesen sei. Als er nach einer Weile den Laden wieder verließ, saß an diesem Tisch ein großer, vollbärtiger Mann, der sein Mobiltelefon am Gürtel trug, wie einen Colt: Bobby Fischer. „Fahr doch hin und geh einfach in diesen Buchladen. Du kannst bestimmt mit ihm sprechen“, empfahl mir der Kollege. Aber das schaffte ich leider nicht – und ehrlichgesagt wäre mir auch gar nicht wohl dabei. Ich wüßte nicht, wie ich ihm helfen könnte – außer vielleicht mit dem Hinweis, die Welt nicht mehr so dämlich schwarz/weiß wahrzunehmen, weil dies einem Menschen mit einem angeblichen IQ von 180 einfach nicht angemessen ist.

Der Lieblingsspieler des jungen Bobby Fischer war niemand anderes als Paul Morphy, dessen trauriges Schicksal wir oben geschildert haben – und wie seinem Idol ist es ihm nicht gelungen, die rasende Paranoia, das unbedingte Verschwörungsdenken, das ihn zum Schach-Weltmeister machte, daran zu hindern, in die Realität überzuschwappen. Ich glaube, dass wir in diesen beiden extremen Fällen von Schachgenie und Verfolgungswahn einen Beleg für die These sehen könnte, dass nicht Schach verrückt macht, sondern eher potentiell Verrückten erlaubt, eine Weile normal zu bleiben. Erst wenn sie aus Angst vor der Niederlage nicht mehr spielen wird es ernst. Nicht immer so extrem wie bei Morphy und Fischer, die als die beiden einzigen US-Größen das Signum der Vereinigten Staaten als paranoischer Nation auch auf im Schach mit zwei Ausrufezeichen versehen, aber in weitaus milderer und manchmal kurioser Form bei vielen Schachprofis. Tröstlich ist da nur: solange sie spielen, ist es nicht wirklich ernst….

© Mathias Bröckers

Heutiger Tatort Thema Schizophrenie

Bremen - Kein schöner Anblick für einen 16-Jährigen: ausgerechnet ihr Sohn Max (Vincent Göhre) erspäht Sylvia Lange (Mira Partecke), wie sie in der Tankstelle steht. Offensichtlich verwirrt, in der Hand eine Waffe, der Blick starr auf die Leiche des Tankstelleninhabers gerichtet. Ein gezielter Kopfschuss hat ihn niedergestreckt.

Die gute Nachricht gleich vorweg: um den Mord geht es im Bremer Tatort „Ordnung im Lot“ (Sonntag, 20.15 Uhr, ARD und in der Mediathek) eigentlich gar nicht. Es stellt sich eine ganz andere Frage: Was ist los mit dieser Sylvia Lange? Die blutverschmierte Leiche ist nicht allein der Grund dafür, dass sie derangiert in der Tankstelle steht. Sie leidet an einer psychischen Störung, hat Wahnvorstellungen und lebt in ihrer eigenen Welt.

Für die Kommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreund (Oliver Mommsen) ist sie die wichtigste Zeugin – und gleichzeitig eine Tatverdächtige. Kein Zweifel, sie weiß etwas über den Mord. Das Problem: Ihre Aussagen ergeben keinen Sinn, Sylvia Lange spricht in Rätseln oder kritzelt unverständliche Botschaften auf Tischplatten. Die Kommissare dringen nicht zu ihr durch.